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Er ist bekannt für seine raffinierten Marmortische. Doch Angelo Mangiarotti (1921–2012) konnte noch viel mehr: Der Mailänder Architekt, Bildhauer und Designer entwarf organisch geschwungene Uhren, dynamische Marmorwaschbecken bis hin zu Fabrikgebäuden, Kirchen und Bahnhöfen. Eine Retrospektive in der Mailänder Galleria Sozzani zeigt, wie spielend ihm der Sprung zwischen den Maßstäben gelang.

Es gibt zwei Arten, der Schwerkraft zu begegnen: Man versucht sie zu überwinden. Oder man macht sie sich zunutze. Der Mailänder Gestalter Angelo Mangiarotti (1921–2012) wählte zeitlebens den zweiten Weg und geriet dennoch nicht in den Verdacht eines kreativen Raubeins. Der Grund: Obwohl er ein überzeugter Modernist war, nahm er es mit dem rechten Winkel nicht allzu genau. Seine Repertoire umfasste ebenso sinnliche, fließende Formen, die eher dem Atelier eines Bildhauers hätten entsprungen sein können als dem Zeichentisch eines Architekten.

Was Mangiarotti interessierte, war vor allem die Silhouette, die grafische Kontur. Kegel, Zylinder und Pilze wurden von ihm in Möbeln, Leuchten, Uhren bis hin zu Wohnhäusern, Kirchen, Bahnhöfen oder Fabriken übersetzt. Seine Entwürfe nach Funktion oder Größe zu unterscheiden ist müßig. Denn Mangiarotti verstand sich stets als Generalist, der „vom Löffel bis zur Stadt“ alles entwerfen wollte. Der Sprung in den Maßstäben wurde zu einer alltäglichen Übung, die er so souverän beherrschte wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen.

Wie Konstruktion und Raffinesse zusammenkommen, führen seine zahlreichen Tischentwürfe treffend vor Augen. Vor allem die Materialität von Marmor hatte Mangiarotti fest in ihren Bann gezogen. Ganz gleich ob der lasziv geformte Beistelltisch „Eros“ (1971) oder sein rationelles Pendant, der modular erweiterbare Esstisch „Inkas“ (1978): Ihre massiven, steinernen Tischplatten werden allein von konischen Füßen getragen, die sich vom Boden aus verjüngen. Der Clou: Es werden keine weiteren Verbindungselemente benötigt, um den Tischen Stabilität zu verleihen. Die Tischplatten ruhen allein durch die Wirkung der Schwerkraft fest auf ihren Füßen und verschmelzen mit ihnen zu einer statischen Einheit.

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Das Design von Mangiarotti erinnert häufig an moderne Skulpturen, obwohl es funktionale Möbel sind. So auch der steinerne Sitz namens „Clizia“, welchen der Designer für den Außenbereich schuf.

Ihren Ursprung fand das Prinzip in der Architektur, die Mangiarotti gegenüber den übrigen Gestaltungsdisziplinen keineswegs als überlegen verstand. So scheute er auch nicht davor zurück, das Bauen aus dem Blickwinkel eines Designers zu betrachten und als einer der ersten Nachkriegsarchitekten mit vorgefertigten Bauteilen zu arbeiten. Mit spröden Plattenbauten haben diese Architekturen allerdings kaum etwas gemeinsam, wenngleich sie ebenfalls in geringer Bauzeit errichtet werden konnten. Vor allem seine Industriebauten überraschen mit einem außergewöhnlichen Sinn für Details. Das Dach eines Lagerhauses für die Brauerei Splügen in Mestre (1962) wird von Säulen ausbalanciert, als handle es sich um einen antiken Tempel. Wie die konischen Beine seiner Tische verjüngen sich die Säulen vom Boden zur Decke und gehen auf fließende Weise in eine quadratische Deckenplatte über – einer abstrahierten Form des Kapitells.

Aus leichten Materialien ließe sich der "Clizia"-Sitz6 platzsparend stapeln.

Aus leichten Materialien ließe sich der „Clizia“-Sitz platzsparend stapeln.

Der Clou dieser Lösung: Das Gebäude besitzt keinen autarken, in sich geschlossenen Charakter, sondern kann nach Belieben erweitert werden. Ein Umstand, der Mangiarotti ebenso in weiter gefassten Dimensionen denken ließ, konnte das  Prinzip schließlich auch an anderer Stelle zum Einsatz kommen. So entwickelte er in den späten sechziger, frühen siebziger Jahren gleich eine ganze Reihe industrieller Bausysteme, „um die architektonische Qualität der Fabriken zu verbessern, in denen tausende Menschen arbeiten würden“, wie Mangiarotti in seinen Memoiren vermerkte.

Wie auch das Wohnen den nötigen Schwung erhält, zeigt ein Apartmentgebäude in der Via Gavirate (1959) in Mailand. Es ist offensichtlich, wie die Pilzform seiner berühmten Tischuhr „T1“ (1955) für diesen Entwurf Pate stand. Die Wohnungen verteilen sich auf drei Zylinder mit einem Durchmesser von jeweils dreizehn Metern. Jeder Zylinder wird von einem mittig platzierten Pfeiler knapp fünf Meter über den Boden getragen, sodass die Wohnungen über einen kleinen Garten sowie ein zentrales Foyer hinwegschweben.

Ein berühmtes und beliebtes Designobjekt ist auch der Chicago Chair. Bis heute kopieren viele Firmen den Stuhl aus verstärktem Kunststoff, welcher original aus der Feder Mangiarottis stammt.

Ein berühmtes und beliebtes Designobjekt ist auch der Chicago Chair. Bis heute kopieren viele Firmen den Stuhl aus verstärktem Kunststoff, welcher original aus der Feder Mangiarottis stammt.

Die Dinge aus ihrem inneren Aufbau heraus zu denken, hat Angelo Mangiarotti bereits von klein auf erlernt. Seinem Vater gehörte eine bekannte Mailänder Bäckerei, die ihren Ruf nicht ohne Grund besaß. Für die Herstellung der Teigwaren wurde das Wasser eigens aus Quellen bei Como geliefert, während das Olivenöl ausschließlich aus Ligurien stammte – der italienischen Riviera. Auch wenn Mangiarotti keine Bäckerlaufbahn einschlug und stattdessen 1948 seinen Architekturstudium am Mailänder Politecnico abschloss, ließ ihn die Arbeit mit der Hand nicht unberührt. Konzentrierte er sich im Bauboom der fünfziger Jahre auf seine architektonischen Projekte, nahm die Bildhauerei in den folgenden Dekaden eine immer wichtigere Rolle ein. Auch diese Arbeiten blieben nicht allein auf das Gebiet der Kunst begrenzt, sondern wurden sogleich in Gebäude, Vasen oder Möbel übersetzt. Neben seiner Vorliebe für Marmor und Beton lernte Mangiarotti noch ein drittes Material besonders schätzen: Glas. Mehr als 800 Glasobjekte entwarf er bis zu seinem Tod im September 2012, darunter auch ein Whiskyglas, das Eiswürfel beim Trinken nicht in den Mund rutschen lässt. Der Kristall-Leuchter „Giogali“ (1967) gilt nicht nur als Klassiker des Sechziger-Jahre-Designs, sondern überrascht auch mit seinem strukturellen Aufbau. Mangiarotti hat mit diesem Entwurf die Modularität seiner Gebäude in die Welt der Lüster übertragen. Auch hierbei ist das Prinzip so einfach wie vielseitig zugleich: Schließlich besteht der Leuchter aus lediglich einem Bauteil: einer gläsernen Doppelschlaufe in Form einer 8, die über einen großen sowie einen etwas kleineren Ring verfügt. Bei der Herstellung wird während des Abkühlungsprozesses der kleinere Ring über den größeren gebogen. Die Module können somit ineinander gehakt werden, sodass sich der Leuchter beliebig verlängern, verbreitern und an unterschiedliche Raummaße adaptieren lässt.

Angelo Mangiarotti

Angelo Mangiarotti

So modern das Waschbeckenkonzept "Bjhon" wirkt, ist es schon vor mehr als vierzig Jahren entwickelt worden. Das italienische Designhaus Agape verkauft bis heute den stilvollen Badklassiker, den der kreative Meister kreierte.

So modern das Waschbeckenkonzept „Bjhon“ wirkt, ist es schon vor mehr als vierzig Jahren entwickelt worden. Das italienische Designhaus Agape verkauft bis heute den stilvollen Badklassiker, den der kreative Meister kreierte.

Dass der „Giogali“-Leuchter heute wieder verstärkt in Hotels, Restaurants und Boutiquen zu sehen ist, unterstreicht eine weitere Qualität von Mangiarottis Arbeiten. Sie sind zeitlich nur schwer zu verorten und wirken auch heute noch erstaunlich aktuell. Einige seiner Entwürfe haben sogar heutige Entwicklungen vorweggenommen. So wirkt sein Wettbewerbsbeitrag für einen Pavillon auf der XIV. Mailänder Triennale (1968) derart dynamisch geschwungen, als wäre er der Blobfabrik von Zaha Hadid entsprungen. Und auch die Waschbeckenserie „Lito“ (2003) wirkt so leicht und beschwingt, dass es schwerfällt, sie als das Spätwerk eines 82-Jährigen zu identifizieren. Mangiarotti blieb selbst im hohen Alter nicht untätig und konzipierte 2006 die Bahnstationen des neuen Mailänder Messegeländes.

Nicht nur als Designer ist Mangiarotti bekannt, sondern auch als Architekt. Für die XIV. Triennale von Mailand im Jahr 1968 gestaltete er den Ausstellungspavillon.

Nicht nur als Designer ist Mangiarotti bekannt, sondern auch als Architekt. Für die XIV. Triennale von Mailand im Jahr 1968 gestaltete er den Ausstellungspavillon.

Dass der Name Mangiarotti in den letzten Jahren wieder stärker Beachtung fand, ist nicht zuletzt dem italienischen Hersteller Agape zu verdanken. Führte dieser zunächst einige seiner Waschbecken im Programm, entschied sich das ausschließlich im Bad-Segment tätige Unternehmen 2010 zu einem ungewöhnlichen Schritt: Es gründete eigens die Marke „AgapeCasa“, um ebenso die Möbelentwürfe Angelo Mangiarottis wieder aufzulegen. Neben den Tischikonen „Eros“ und „Inkas“ wurden auch weniger bekannte Arbeiten wie das stapelbare Regal-System „Cavalletto“ (1957, ital. Pferdchen) in Produktion genommen. Auch dieses Möbel gleicht einem modularen Bausatz, dessen Gestell in Form eines auf den Kopf gestellten V beliebig in die Höhe und Breite erweitert werden kann. Anlässlich der Mailänder Möbelmesse 2013 wurde die Kollektion zuletzt um
den Sessel „Club 44“ (1957) sowie um das Tischprogramm „More“ (1989) erweitert.

Was die Ausstellung in der Galleria Carla Sozzani offenbart, ist mehr als nur ein Einblick in ein weit gefasstes OEuvre. Sie legt einen besonderen Schwerpunkt auf die Skulpturen Mangiarottis, die wie eine Synthese seiner Designauffassung wirken: Mit präzisen geometrischen Formen versuchen sie möglichst klar und verständlich zu wirken. „Glücklichsein kommt von Korrektheit“, pflegte Mangiarotti stets zu sagen, der übertriebenen, technologischen Aufwand als Manieriertheit verachtete. Reihen ihn seine Architekturen in die Riege genialer Ingenieure wie Pier-Luigi Nervi oder Buckminster Fuller, ist sein Werk doch weiter gefasst. Es verschmilzt die freien und angewandten Künste zu einer untrennbaren Einheit.

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